1568 Aus der Geschichte der Trösch
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Im Kampf um ein Lebensziel
Aus meinen Lehr- und Wanderjahren und was nachher kam. Von Walter Trösch, Olten (1955).
Der Eintritt ins Leben

Es war im Herbst des Jahres 1897. Mein Traum der Jugend, mein Traum während meiner Lehrzeit, sollte in Erfüllung gehen in der Form meiner Reise nach Paris. Freiheit und eigenes Erleben und Streben konnten nun beginnen. Seit einem halben Jahr war ich mit meiner Schriftsetzerlehre zu Ende gekommen. Mein Entschluss war gefasst, meine knappe Ausrüstung durch meine Lohnersparnisse in Ordnung. Ich konnte getrost das Wagnis unternehmen, nach Paris zu fahren, um dort mein Fortkommen zu suchen. Mein Onkel in Paris bot mir die Ermunterung, im Trubel der Grossstadt festen Fuss zu fassen.
Mein Vater ist nur 45 Jahre alt geworden.1 Reichtum gab es nicht in unserer Familie. Die Hauptlast musste seit Jahren schon unsere Mutter übernehmen und für den Unterhalt und das Vorwärtskommen sorgen. Ich hatte nach meinem Schulaustritt mein Schicksal selbst zu meistern, wie viele Tausende meines Alters. Das Geschick hat mir sogar den Besuch der Sekundarschule verweigert, trotzdem ich die Fähigkeit dazu gehabt hätte. Der Schulmeister Born in Herzogenbuchsee, mit dem meine Mutter nach Absolvierung der ersten vier Jahre über den Eintritt in die Sekundarschule verhandelte, behauptete, wenn man später nicht studieren könne, habe die Sekundarschule keinen Wert. Er sagte dies, weil er wusste, dass bei uns aus finanziellen Gründen ein Studium nicht in Frage kam. Er war bestrebt, ein paar gute Schüler und Schülerinnen in seiner Primarschule zu behalten. Bis zum Austritt aus der Schule hatte ich kaum ein Wort Französisch gelernt.
Bei der Berufswahl erklärte mir ein Meister einer mechanischen Werkstatt, ich sei zu «bring», zu wenig entwickelt. Ich hatte damals im Sinn, Lokomotivführer zu werden, wozu mir die Lokomotiven Anlass gaben, die ich täglich auf meinem Schulweg bewundern konnte.
Ich kam in der Folge zu einem Bauern nach Nods am Fusse des Chasserals, um Französisch zu lernen. Zu was langt schon ein solcher Lehrgang in einem Bauerndorf? Zu fast nichts. Ich musste beginnen, mir selber zu helfen. Ich erreichte es, in einem Pensionsinstitut Französisch-Stunden zu nehmen. Anderthalb Jahren gingen so verloren und dann dauerte es noch ein halbes Jahr bis ich eine Lehrstelle als Schriftsetzer in der Buchdruckerei B. Fischer in Münsingen fand.2 Diese Lehre war an die Vorschrift der Absolvierung der Sekundarschule gebunden, doch dank der Kenntnis der französischen Sprache liess sich Herr Fischer herbei, mich anzunehmen. Mein Wunsch, in das Zeitungs- und Bücherwesen Eingang zu finden, ging in Erfüllung.
Mit 17½ Jahren3 kam ich in die vierjährige Lehre, verdiente Kost und Logis beim Prinzipal und zwei Franken Wochenlohn bei mehr als 60-stündiger Arbeitszeit. Mit 21½ war ich noch Lehrling mit zwei Rekrutenschulen als Ausbildung (!).
Meine Meistersfrau versicherte mir, nun sei ich ein gemachter Mann, ich verdiene mehr als ein Schulmeister! Bei einem Lohn von 30 Franken pro Woche. – In späteren Jahren erklärte mir der Prinzipal Fischer, ich sei sein bester Lehrling gewesen.

Paris

Für einen Schriftsetzer deutscher Zunge war es ein gewagtes Unternehmen, in Pariser Druckereien Arbeit zu finden und mit französischen Berufskollegen den Konkurrenzkampf aufzunehmen. Dort sind die Arbeitsverhältnisse ganz andere, wozu noch die Sprachschwierigkeiten hinzukamen. Schreibmaschinen gab es in den neunziger Jahren sozusagen keine und es war eine schwere Aufgabe, als fremdsprachiger Setzer in den fast nicht lesbaren Handschriften der Redaktoren und Korrespondenten einer Zeitung zu arbeiten, wobei ja noch ein möglichst fehlerfreier Schriftsatz geliefert werden muss. Einstweilen wurde daraus noch nichts.
Die erste «Büez» fand ich schon am folgenden Tage auf der Arbeitssuche. Die erste beste Druckerei der Nachbarschaft, eine kleine Bude, musste Besuch aushalten und es langte mir zu einer kleinen Anstellung mit 2 Fr. Taglohn (!). Es war mir darum zu tun, möglichst rasch in eine Druckerei zu kommen, um die Arbeitsmethoden der französischen Druckereien kennenzulernen. Alles war hier anders als in der Schweiz. Dort hielt es mich nicht lange, d. h. bis ich ein anderes Engagement gefunden hatte. Auch diese Stelle war nicht viel wert. Fr. 4.– Taglohn. Arbeit in einem Keller, mit Tiegeldruck (Tretmaschine). Ich wuchs schon besser in die Pariser Verhältnisse hinein. «Il fallait se débrouiller!»
Der grosse Dreyfuss-Prozess, der ganz Frankreich durcheinander brachte, veranlasst durch die schwere Anklage Emil Zolas «J’accuse!», verschaffte mir eine Stelle in einer grossen Druckerei, Imprimerie du Siècle, wo 350 Setzer arbeiteten. Dort wurde meine Stelle zu einer dauernden, das heisst, bis ich fand, es sei Zeit weiterzukommen. London zog mich an, nachdem ich ein Jahr in Paris gearbeitet hatte. Sprachen sind für einen Schriftsetzer und für den Buchdruckerberuf wichtig, nebst den Berufskenntnissen.
In Paris hat mir dieses Berufsjahr viel geboten. Beruflich und belehrend gab es viele Bildungsstätten, Paris und Versailles sind berühmte, sehr schöne Städte mit ihren grossartigen Anlagen und Bauten, Boulevards und Avenuen. Museen aller Art. Kunststätten, grosse Druckereien, Arts et Métiers, Eiffelturm, Louvre, Kirchen usw. Versailles enthielt damals eine weltberühmte Bildergalerie, darunter die napoleonischen Schlachtenbilder ganz grossen Formats.
Die Familie meines Onkels Fritz Burri mit seiner Frau und seinem kleinen 12jährigen Sohn war mir eine wertvoller Stützpunkt in dem turbulenten Paris. Mit dem kleinen aufgeweckten Pariser Cousin Georges machte ich viele Ausflüge in all die Bildungsstätten der Weltstadt. Mein Onkel hatte ein kleines Schuhwarengeschäft und Reparaturwerkstätte auf dem Boulevard de la Villette. Er war ein sehr fortschrittlich durchdachter Mann, mit dem sich interessante Diskussionen entspannen. Diese Diskussionen waren für mich sehr anregend und lehrreich. Er war ein eifriger Zeitungsleser. Trotz den nicht gerade gesunden Verhältnissen der Grossstadt und den langen Arbeitszeiten, der Laden blieb damals sonntags und werktags bis 10 Uhr abends offen, erreichte er ein Alter von 85 Jahren. Sein Vater4 war ein Kleinbauer im Weissenried bei Bützberg. Drei seiner Geschwister, worunter meine Mutter5, erreichten ein Alter zwischen 82 und 85 Jahren. Alle hatten ihr Leben lang ganz gehörige Arbeitsbürden.

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Nebst dem grossen Dreyfuss-Zola-Prozess, der Paris an den Rand einer Revolution brachte, mit Demonstrationszügen aller Art, bis die Militärkamarilla überwiesen und verurteilt war, hatte ich kleine Abenteuer zu bestehen. Ein interessantes Intermezzo, das mir passierte, kann ich anbringen: Ein hypnotisierte Frau verursachte mir ein Erlebnis.
In der Imprimerie du Siècle in Paris fand ich unter den zahlreichen Velofahrern Kameraden, die geneigt waren, gelegentlich kleinere Spazierfahrten mit Velos zu unternehmen, so zum Beispiel die Fahrt rund um Paris, 33 Kilometer, entlang den damals noch vorhandenen grossen Befestigungen, den «Fortifs». Ausserhalb dieser Befestigungen befand sich ein unübersehbares Gelände von zirka 150 m Breite, als freies Schussfeld gedacht. Die Velos in Frankreich hatten damals gar keine Bremsen und auch keinen Freilauf, man musste mit den Füssen bremsen. Einmal machte ich in einem Gespräch anheischig, von der Druckerei aus im Zentrum von Paris in einer Stunde die Strecke beim Arc de Triomphe vorbei durch den Bois de Boulogne und über die Avenue de St-Cloud der Seine entlang zurückzufahren. Diese Strecke von nicht ganz 20 Kilometern wäre an sich nicht schwer zu bewältigen gewesen; es ging aber von der verkehrsreichsten Stelle der Stadt hinaus und dann wieder zurück bis zum Boulevard Monmartre. Damals gab es noch keinerlei Autos, nur Pferdebetrieb. An der Avenue de St-Cloud, an der Umkehrstelle, wurde eine Kontrolle für meine Fahrt eingelegt. Nach Passieren dieser Kontrolle fand ich die Avenue H. Martin total aufgebrochen im Umbau. Es war mir nur möglich, rechts zwischen den Tramschienen zu fahren. Ich legte alle Kraft ins Spiel. Da kreuzte eine einzelne Frau die aufgebrochene Strasse, blieb zirka 50 Meter vor mir ausgerechnet zwischen den Tramschienen stehen und starrte unverwandt auf den mit höchster Velogeschwindigkeit ankommenden Radfahrer. Rein hypnotisiert muss die Frau gewesen sein. Ein seitliches Ausweichen war mir unmöglich gemacht durch die terrassenförmigen Absätze links und rechts. Ich dachte, die Frau mache nur Spass und ziehe dann einen Fuss zurück, um mich durchzulassen. Aber nichts derartiges tat sie. Als mein Vorderrad neben ihr anlangte, versuchte ich den Schock zu mildern, indem ich die Frau mit beiden Händen zu halten suchte. Der Schock war aber so stark, dass sie drei Meter weit in die aufgebrochene Strasse geschleudert wurde, ohne weiteren Schaden zu nehmen. Sie erhob sich, fand die Sprache wieder zum Schimpfen und las die verstreuten Haarkämme zusammen. Ich blieb auch nicht stumm, richtete meine Lenkstange und führ schleunigst weiter, denn meine Zeit war sehr knapp.
Leider erlebte ich noch einen weiteren unerwarteten Unfall. Auf dem Grand Boulevard des Italiens, beinahe am Ziel, traf ich zwei Reihen Kutschen mit Pferden im Trab, eine fuhr links gegen mich, die andere rechts in gleicher Richtung. Dazwischen war ein breiter Streifen der Strasse frei. Unglücklicherweise fuhr vor mir ein leeres Kutschli in dem freien Teil. Gerade als ich überholen wollte, riss der Kutschner sein Ross herum zum Wenden und versperrte mir die ganze Passage, ohne einen Blick nach rückwärts oder ein Zeichen zu geben. Ich hatte plötzlich nur die Wahl, in das Ross hineinzufahren oder in den Wagen, da mein Rad keine Bremse besass. Ich liess wieder die Lenkstange fahren vor dem Anprall, wobei ich eine weichere Stelle auswählte. Das gelang mir zum schönen Teil, aber meine Pedale, die Hosen und die Lenkstange waren die Leidtragenden. Ich konnte von Glück reden, dass es so gut abgelaufen war. Die kleine Wette war verloren. Das war weiter nicht schlimm, doch ein merkwürdiges Erlebnis, kaum glaublich, aber wahr.

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Das bremsenlose Velo hätte mich einmal in Pontoise, 40 Kilometer von Paris, in Lebensgefahr bringen können. Beim Besuche diese Stadt, die von der Seine durchschnitten wird, fuhr ich eine steile Strasse gegen den Fluss hinunter. Zuerst ging es ordentlich mit dem Bremsen mit den Pedalen. Die Strasse wurde aber noch steiler, doch ich sah die Sache nicht für gefährlich an. Nun begann aber die Geschwindigkeit des Rades zuzunehmen und ich sah den Moment kommen, wo die Geschwindigkeit so gross würde, dass ich die Pedale nicht mehr meistern konnte. Unten am Stutz lief eine Strasse quer zu meiner, mit einer Quaimauer und dahinter der breiten Seine. Mit aller Kraft suchte ich mit den Füssen die Pedale zu halten. Jeden Moment fürchtete ich die Katastrophe komme. Mit grösster Anstrengung brachte ich es doch noch fertig, unten den Rank zu bekommen – ohne Sturz und ohne Zusammenprall auf der Strasse mit irgend etwas. – Noch nach den vielen Jahren erinnere ich mich lebhaft der bösen Fahrt mit dem französischen Velo ohne Bremse.

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Immer stand der Eiffelturm auf meinem Besuchsprogramm. Zweimal wollte ich dem wunderbaren Turm eine Visite machen, traf es aber daneben. Dafür konnte ich einmal vom Jardin d’Acclimentation mit einem Fesselballon 400 Meter hoch steigen und auf ihn hinabblicken. Dabei dachte ich, warte nur, du rennst mir nicht davon! Aber es ging an die 50 Jahre, bis ich seinen wunderbaren Bau und seine weltbekannte Aussicht erlebte.

England

1898 zog es mich fort, und zwar nach London. Per Velo fuhr ich nach dem 180 Kilometer entfernten Dieppe, berühmt geworden durch einen ersten Angriff der vereinigten Armeen gegen die Deutschen. Von dort ging es auf einem kleinen Dampfer nach Newhaven auf der andern Seite des Kanals in vierstündiger Seefahrt. Dann kam wieder das Velo zu Transportehren zur Erreichung des 90 km entfernten London. Wenige Brocken der englischen Sprache standen mir da zur Verfügung.
Als Mitglied der Pariser Setzer-Typographia glaubte ich in London Arbeit zu finden, eventuell als Französisch- oder Deutsch-Setzer oder als Drucker. Auch auf die Aufnahme in die Londoner Society of compositors hatte ich gerechnet. Der Sekretär dieser Gesellschaft erklärte mir aber, es seien 1300 Setzer auf dem Pflaster, was ich da noch wolle? Ich war am Hag!
Da war guter Rat teuer. Mit meinen wenigen Sprachkenntnissen und beschränkten Mitteln war es mir unmöglich, auf eigene Faust in der Riesenstadt nach Berufsarbeit Umschau zu halten. Zurückkehren wollte ich nicht ohne die englische Sprache erlernt zu haben. Also was tun? – Ich ging zu einem Placeur für Hotelangestellte.
Nach ein paar Tagen wurde ich zwei Damen vorgestellt. Mein von Paris vorausgeschicktes Gepäck war immer noch nicht angerückt. Trotzdem wurde ich für tüchtig befunden und angestellt. Antritt in 10 Tagen hiess es. Es wurde dem Placeur verboten, mir die Adresse vor dem Eintrittstage mitzuteilen, indem vermieden werden musste, dass ich etwa mit meinem Schweizer Vorgänger in jenem Hotel Rücksprache nehmen konnte.
So gab mir am Abreisetag der Placeur ein Bahnbillett mit der Weisung mit dem 12-Uhr-Zug ab Waterloo-Station abzufahren.
Ich hatte keine Zeit, um festzustellen, wohin die Reise ging, die Station mit dem Billett war mir völlig unbekannt. Es langte kaum noch, um mit einem «Cab» (zweirädriger Stadtverkehrswagen) mit Kutschner hinten hoch über dem Verdeck) zur Bahn zu fahren.
Waterloo-Station. Einsteigen! Fort ging’s. Wohin?
Eine Nachfrage bei einem Eisenbahnbeamten verlief resultatlos, weil er mich nicht verstand und ich ihn noch weniger.
Die Mitreisenden waren stockenglisch. Was tun? Ich hatte meinen Reisekorb mit Adresse zur taxfreien Beförderung aufgegeben, wie es damals üblich war. Da kam mir der rettende Gedanke sehr rasch. Ich brauchte ja nur aufzupassen, wo der Reisekorb hinging! Mit meinen wenigen Yes and No war nicht weit zu kommen. If you please! Ich setzte mich dementsprechend zunächst dem Packwagen in ein Coupé und harrte der Dinge, die da kommen sollten.
Stundenlang ging die Fahrt, zur Stadt hinaus in die Landschaft von Grossbritannien. Nach zwei Stunden kam eine Stadt, wo fast alle Passagiere ausstiegen; mein Reisekorb blieb im Gepäckwagen. So ging’s weitere zwei Stunden oder noch mehr bis Portsmouth-Stadt, wo wieder fast alles ausstieg. Mein Reisekorb rührte sich nicht vom Fleck.
Unterdessen war es Nacht geworden, es regnete, wie leicht begreiflich anfangs November. Der Zug rollte wieder fort in die Nacht hinaus bis Portsmouth-Harbor (Hafen). Dort wurde der Korb beim Ohr gefasst und auf einen Dampfer geschleppt. Ich auf und nach. Dann kam eine ungefähr stündige Schiffahrt mit ziemlich bedenklichem Geschaukel, bis Ryde auf Isle of Wight, wo wieder auf einen Zug umgestiegen werden musste. Noch war das Ende der Fahrt, Cowes, nicht erreicht. Auf der Mitte der Insel kreuzen sich zwei Eisenbahnlinien. In Newport musste neuerdings umgestiegen werden. Um 9 Uhr abends kam ich wohlbehalten in Cowes auf Isle of Wight an. Ein Mann erwartete mich und geleitete mich ins Hotel «Gloster», am Meer gelegen. Heureka!
Hotelportier! Das will soviel sagen wie Hausknecht, der gelegentlich seinen Portier-Kittel anzieht. Da hiess es sich dreinschicken. Setzerstolz war schlecht am Platz. Was man tun muss, muss man gern tun. Ein schwerer Grundsatz, an dem viele stolpern.
Das «Gloster»-Hotel war fast erstklassiger Art mit schöner, grosser Terrasse direkt an der Sandstrasse am Meer. Zirka 30 Zimmer. Im Winter gab es wenig Gäste mit Ausnahme bei Anlässen im Schloss der Königin Viktoria von England, nahe bei Cowes. Ich konnte mich daran machen, meine Kenntnisse der englischen Sprache zu erweitern. Natürlich nicht nur in Gesprächen, sondern durch Lesen von Büchern, Zeitschriften, Grammatik, Übersetzungen usw. Gleich ging ich hinter das englische Buch «The flying Dutchman».
Beinahe ein Jahr blieb ich im «Gloster»-Hotel. Es gefiel mir gar nicht schlecht. Bereits hatte ich daran gedacht, wieder nach London zurückzukehren, um meine Tätigkeit im Berufe wieder aufzunehmen.

Neue Schicksalswendung

Eines Tages kam ein Brief meines Lehrprinzipals Fischer aus Münsingen, der mich beauftragte, nach Berlin zu fahren und einen dreimonatigen Kurs in der Fabrik zur Erlernung der Setzmaschinenarbeit an der Linotype zu absolvieren. Das war eine hochwillkommene Nachricht. Alle Kosten wurden von Herrn Fischer übernommen.
Mein Wegzug im «Gloster»-Hotel wurde von Mrs. Gordon bedauert. Sie bewies mir ihre Zufriedenheit durch ein gutes Zeugnis. Über Southhampthon, Calais, durch die Nordsee nach Bremen fuhr ich nach Berlin, die dritte grosse Weltstadt, die ich auf meiner Auslandsreise zu besichtigen Gelegenheit bekam. Eine andere Luft war in dieser Stadt bald zu fühlen.
In der Zeit meines Aufenthaltes hatte ich Gelegenheit, in Berlin eine grosse Militärparade auf dem Tempelhofer Feld zu beobachten. Truppen von 90’000 Mann aller Waffengattungen wurden in grossen Defilees von Kaiser Wilhelm mit seinen vielen Generälen paradiert. Grossartige Schaustellungen fanden statt. Für einen demokratischen Schweizer Soldaten kein erhebendes Schaustück, da es eher Bedenken erregte.

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Nach drei Monaten Schulung in der Fabrik der Linotype-Setzmaschine ging’s wieder der Heimat zu. 18 Stunden Fahrt 4. Klasse von Berlin bis Frankfurt am Main. Diese besassen nicht einmal die gewohnte Bestuhlung, sondern nur Bänke den Wänden entlang. In der Mitte wurden die Koffer und Ballen aufgestellt, so dass sie als Sitzgelegenheit benutzt werden konnten. Der Rest der Passagiere musste stehend den Schwankungen des Zuges sich anpassen. Die vierte Klasse wurde aber viel benutzt, aus dem einfachen Grunde, weil sie nur die Hälfte der dritten Klasse kostete. Von Frankfurt an gab es dann wieder die beliebte schweizerische Wagenklasse.
Nach gut zweijähriger Abwesenheit6 ging es in Basel in glücklicher Erwartung über die Grenze ins schöne Schweizerland mit seinen unvergleichlichen Alpenländern. In Münsingen erwartete mich freudiger Empfang meiner Familienangehörigen sowie meiner früheren Kollegen in der Buchdruckerei Fischer. Dabei gab mir das kommende Wirken an der «Linotype» einen erfreulichen Hintergrund.
Fast tags darauf begann schon das Auspacken der Setzmaschine vor den Fenstern der Setzerei. Vier Handsetzern war bereits die Kündigung zugekommen und diese sahen meiner Tätigkeit unangenehm betroffen zu. Zwei Jahre vorher hatten wir in der Setzerei noch darüber gelacht, dass die Schriftsetzerei mit einer Maschine ausgeführt werden könne.
In der Folge zeigte es sich bald, dass die Setzmaschine für die Angestellten der Setzerei keine Gefahr mit sich brachte, sondern eine wesentliche Förderung des Berufes. Die Zeitungen kamen in die Lage, ihre Ausgaben bedeutend zu verbessern und zu vergrössern.
Die Tätigkeit an der «Linotype» in Münsingen verbesserte mein Ansehen bei meinen vielen Freunden und Bekannten, und besonders bei meinen Vettern und Basen und Verwandten. Fischer hatte Freude an der Leistungsfähigkeit der Maschine. Während drei Jahren7 hatte ich nie die Hilfe eines Monteurs notwendig, obschon diese Maschine noch lange nicht die Vollkommenheit aufwies, wie dies in den späteren Jahren der Fall war. Viele Buchdruckereien folgten langsam dem Beispiel Fischers, das Furore machte.
Im zweiten Jahre meiner Maschinensetzertätigkeit in Münsingen kam es zu einem besonderen Intermezzo.
In der Sektion Thun des Schweizerischen Typographenbundes erfuhr ich mein erstes gewerkschaftliches Erlebnis in einer Lohnbewegung. An einer Sitzung der Typographia, der auch Münsingen angehörte, wurde beschlossen, eine Lohnerhöhung um Fr. 2.– pro Woche zu verlangen. Alle Mitglieder wurden verpflichtet, an dieser Forderung unbedingt festzuhalten. In der Folge erklärten die Thuner Prinzipale, der Erhöhung um den kleinen Betrag von Fr. 2.– zuzustimmen unter der Bedingung, dass auch B. Fischer in Münsingen den Aufschlag annehme. Fischer aber erklärte, er zahle rechte Löhne und lasse sich nicht zwingen! In seiner Druckerei erschienen damals die «Emmenthaler Nachrichten», wie heute noch, welche Zeitung ich damals auf der «Linotype» allein setzte, soweit Text in Frage stand. Nun kam Fischer dreimal zu mir in die Wohnung und verlangte von mir die Erklärung, dass ich nicht streike, wenn es zum Streik kommen sollte. Ich erklärte bei den zwei ersten Besuchen, dass ich an den Typographiabeschluss verpflichtet sei und daran festhalten müsse. Dabei berief sich Fischer auf seine Leistungen mir gegenüber. Ich hatte aber das Bewusstsein, ich hätte in den 6 Jahren mehr für ihn geleistet. Beim dritten Besuch erklärte ich ihm, dass ich nicht streike, aber in vierzehn Tagen sei meine Arbeit bei ihm zu Ende. Zwei Tage darauf lud er die Typographiamitglieder zu einem Zobig ein und bewilligte die Lohnerhöhung, wie ich mir gedacht hatte. So wurde der Streik vermieden. Es fehlte eigentlich nicht viel, so wäre ich in Münsingen meiner Lebtag hängen geblieben. Aber die Gelegenheit bot sich, noch einmal eine Fahrt in die Welt hinaus zu unternehmen. Ich war ja noch jung!
Wieder ging’s nach London8, doch diesmal mit einer Anstellung in der Tasche. In London machte ich noch einen Englisch-Kurs durch. In 17 Lektionen arbeitete ich die grosse Grammatik durch und erwarb mir ein Zeugnis als guter Englisch-Schüler.
Schon in Cowes auf der Isle of Wight, bewunderten wir immer die grossen Amerika-Dampfer des Northgerman-Lloyd, die gar nicht weit vor dem «Gloster»-Hotel vorbeifuhren, nach Southhampton hinein, nachts wunderbar beleuchtet, mit Musik an Bord. Nun in London hiess es für mich: Auf nach Amerika, so bald als möglich!
Es musste «nur» das nötige Reisegeld gespart werden sowie 250 Franken, die man vorweisen musste bei der Einwanderung, um nicht der Wohltätigkeit zur Last zu fallen. Arbeitereinfuhr war streng verboten; man risikierte, franko zurückspediert zu werden. Nun mussten 50 Prozent meines Wochenlohnes, 1 Pfund, unweigerlich in meine Reisekasse fliessen. Nach einem halben Jahr war ich so weit. Mitten im stürmischen Novemberwetter9 fuhr ich auf dem «St-Louis», einem älterem Kasten, nach Amerika. Das Geschaukel infolge des schlechten Wetters war so stark, dass es mir während der ganzen Überfahrt den Appetit verdarb. Zur eigentlichen Seekrankheit mit Erbrechen kam es bei mir nicht, hauptsächlich weil man auf diesem Schiff ringsherum zirkulieren konnte. Auf einem grossen Teil der Fahrt kamen im starken Wellengang immer die Schrauben hinten aus dem Wasser, gerieten in schnelleren Gang und prallten beim Eintauchen mit harten Schlägen wieder ins Wasser. Dabei gingen zwei Flügel der Schrauben entzwei, so dass die Fahrt des Dampfers um 2½Tage verlängert wurde und mit so viel Verspätung in Neuyork eintraf.
Der Empfang und die Behandlung auf Ellis Eiland bei den Kontrollbehörden ging gut vonstatten. Ich konnte dem Kontrolleur in drei Sprachen antworten.
Dank meiner gewerkschaftlichen Organisation bekam ich in Neuyork bald Anschluss an den typographischen Verband. Auf dem Arbeitslosenbureau wurde mir nach ein paar Tagen Aushilfskondition zugewiesen. Nach ein paar Wochen wurde ein Linotype-Setzer verlangt, der die Fähigkeit haben musste, englische Inserate deutsch abzusetzen. Das passte für mich; kein anderer Anwesender konnte mir Konkurrenz machen. In der Buchdruckerei der «New Jersey Freien Zeitung» in Newark bei Neuyork arbeitete ich darauf zwei Jahre10 als Linotype-Annoncensetzer.

Einige kleine Ereignisse in Amerika

Im Jahre 1904 wurde in St. Louis im Mississippital im südlichen Teil der Vereinigten Staaten eine Weltausstellung abgehalten, an der ich teilnehmen konnte. 20 Dollar machte die Reise hin und zurück, und zwar über die nördliche Route mit ihren Kohlenfeldern, die Niagarafälle, die grossen Seen, dann über die riesigen Mais- und Weizenfelder bis an den Mississippi hinunter. Die Coach-Extrazüge enthielten nach allen Richtungen verstellbare Sitze, die sich auch als Schlafstellen benutzen liessen mit ihren Plüschsitzen. Restaurationswagen fehlten nicht mit viel Musik, worunter die immer wiederkehrende Melodie «Meet me at St. Louis, Louis, meet me at the Fair». Durch die Maisfelder mit ihren niedrigen Pflanzen sauste der Zug stunden- und stundenlang ohne Halt dahin, fast immer eine Staubwolke hinter sich herschleppend. Am andern Mittag ging es auf sehr hoher Brücke über den Vater der Ströme nach St. Louis hinein. In der Ausstellung handelte es sich ganz besonders um die Produkte der Vereinigten Staaten und um die Geschichte der Landesentwicklung aus den Indianerzeiten herauf. Eine besondere Attraktion bot die Philippinenausstellung in voller Natürlichkeit. Ich erinnere mich besonders an die Vielfarbigkeit der Bevölkerung von ganz schwarz, braun bis weiss und an die grosse Hitze, die fast nicht auszuhalten war. Im ganzen eine Ausstellung aller menschlicher Errungenschaften bis zu diesem Zeitpunkt. Das Land der Bubenträume und Indianergeschichten.

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In den ersten Tagen in Neuyork wollten mich zwei Gauner erwischen. Als ich vormittags zur Arbeit ging, noch mit meinen Schweizer Kleidern angetan, die mich als «Grünen» anprangerten, trat plötzlich ein hinter mir Gehender vor mich hin, hob etwas vom Boden auf, das scheinbar von einem weiter vornen gehenden Mann verloren worden war. Dann zeigte mir der Mann in der hohlen Hand eine Banknote. Dazu machte er eine Bemerkung: Gefundenes Geld ist herrenloses Gut; ich solle mit ihm in die Nebengasse folgen. Dort zeigte er mir seinen «Fund». Es war eine Hundert-Dollar-Note und eine 1-Dollar-Note. Dann schlug er mir gleich vor, das Geld zu teilen, ich solle ihm 50 Dollar herausgeben. Das war mir schlechterdings ganz unmöglich. Dann wollte er wissen, wie viel Geld ich bei mir habe. Das machte mich stutzig. Lebhafte Diskussion beiderseits. Zuletzt schlug ich ihm vor, er solle mir die 1-Dollar-Note geben und er könne die 100 Dollar behalten. Das wollte er aber nicht. Dabei wurde mir ganz klar, dass die hundert Dollar falsch waren, obschon ich keine Ahnung hatte, dass es solche gab. Die Dollarnote war echt. Das war das Ende des Spukes.
Eines Abends hatte ich in einer Grossdruckerei (es gab solche mit 40 Linotype-Setzmaschinen, wie die «Neuyorker Staatszeitung») eine Nachtschicht zu absolvieren. Nachdem ich die Maschine gleich anfangs misstrauisch betrachtet hatte, begann ich zu setzen. Beim Absenden der ersten Zeile zum Guss vollführte die Maschine einen derartigen Krach, dass ich entsetzt aufsprang und einen Kollegen fragte, was mit der Maschine los sei. Er erklärte mir, das sei eine von den ersten Linos und hapere viel. Dann setzte er einige Zeilen an der Maschine, ich wurde mit der krachmachenden Maschine vertrauter. Es ging leidlich, aber nicht gut.
Kaum drei Wochen in Neuyork und glücklich, eine aussichtsreiche Stelle gefunden zu haben, wollte ich nach Newark fahren, um meine Stelle anzutreten. Ich hatte mein Zimmer im Hotel abbestellt. Im Laufe des Tages stellte sich heraus, dass ich nochmals in Neuyork übernachten musste. Mein Zimmer war jedoch besetzt und man gab mir irgendein freies Zimmer in dem 20 Stock hohen Bau. Ich begab mich ins Zimmer und machte mich bereit, zu Bette zu gehen. Während ich vor dem Bette die Schuhe auflöste, bemerkte ich unter dem Bette eine aufgerollte Wolldecke. Ich machte schon eine Bewegung, um nach der Wolldecke zu greifen, da dachte ich, ach was, sicher hat das Zimmermädchen Wäsche in der Wolldecke versorgt. Morgen um 6 Uhr beim Aufwachen waren zu meinem Schrecken meine Kleider im ganzen Zimmer verstreut. Es fehlte meine Mantel, es fehlte mein Portemonnaie und noch anderes. Glücklicherweise war der Dieb ein «Grüner», sonst hätte er meine Noten und mein Zahltag gefunden und nicht nur das Portemonnaie mit etwas Münz. Die Amerikaner trugen damals fast alle das Münz in einem kleinen Täschchen am Rock, die Noten in einem Notentäschchen. Die Wolldecke unter dem Bett lag nun flach da. Vom Dieb war natürlich nichts mehr zu finden. Was hätte passieren können, wenn ich die Wolldecke aufgemacht hätte?
In Newark arbeitete ich an der «New Jersey Freien Zeitung» als Inseratesetzer und Übersetzer zugleich, wobei mir Linotype-Setzmaschinen zur Verfügung standen. 6 weitere Setzmaschinen dienten in zwei Schichten zur Herstellung des Textes der Zeitung. Ein Linotype-Mechaniker und -Fachmann besorgte alle auftretenden Störungen an den Setzmaschinen, so dass die Operateure nur zu tippen brauchten. 1000 Zeilen mussten in einer Nacht von jedem geleistet werden. Jede Maschine besass einen Zeilenzähler. Als Beleuchtung waren elektrische Birnen alten Systems vorhanden, man nannte sie Glühwürmer. Osram-Lampen mit dem viel besseren Licht gab es damals noch nicht. In der Inserateabteilung erhielten wir grosse Geschäftsinserate zum Setzen, die von den Auftraggebern einfach aus den englischen Zeitungen herausgeschnitten waren. Das Übersetzen wurde von den Setzern besorgt, teils Maschinensatz, teils Handsatz. Bei dem Übersetzen kam die Eigentümlichkeit zum Vorschein, dass man nicht zu sehr nach gutem Deutsch übersetzen durfte, sondern man musste sich an das Gebrauchsdeutsch halten, wie es sich mit Englisch gemischt eingelebt hatte. Es war nicht sehr schwierig, sich diesem Mischmasch anzupassen. Im Sommer war es oft fast unerträglich heiss. In der Druckerei hatten wir über 100 Grad Fahrenheit Temperaturen (zirka 38 Grad Celsius). – Mit allen Setzern und Druckereiangestellten stand ich die zwei Jahre hindurch in bestem Einvernehmen.

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In den ersten Monaten wohnte ich in Newark in einer Zimmermieterei nicht zu weit von der Druckerei. Eines Morgens, um 2 Uhr, kam ich von der Nachtschicht heim. Zu meinem Schrecken fand ich meinen Hausschlüssel nicht in meinen Taschen. Ich läutete mehrmals an der Haustür; niemand machte mir auf. Mein Zimmer lag im ersten Stock hinten hinaus. Was tun? Neben dem Haus war eine Bretterwand, fast zwei Meter hoch. Ich kletterte mit Mühe über die Wand. Leider fand sich auf der andern Seite ein Stapel von leeren Blechfässern und Kannen, die natürlich in Bewegung gerieten und einen grossen Lärm verursachten. Glücklicherweise rührte sich niemand im Haus. Im Hof musste ich nun ein Vordach erklettern, das aus Wellblech bestand, um zu meinem Fenster zu gelangen. Während ich auf dem Dach emporkroch, das Blech machte ordentlich Geräusch, kam mir in den Sinn, dass mein Zimmerkamerad, den ich kaum kannte, einen Revolver im Nachttisch aufbewahrte. Ein paar Minuten hatte ich wirklich Angst, der Mann könnte mich, den vermeintlichen Einbrecher, mit dem Revolver «begrüssen». Aber nichts geschah. Er schlief ruhig weiter. Er arbeitete tags, so dass ich ihn kaum sah und nachts war ich meist abwesend an meiner Arbeit.
In Newark ward ich ohne weiteres in die deutsche Typographia Nr. 8 aufgenommen. Der Präsident war zudem noch Schweizer namens Ferdinand Meyer, der mich mit kordialem Handschlag begrüsste an der Mitgliederversammlung. 52 Jahre sind seither verflossen und immer noch stehe ich mit diesem früheren Kollegen in ständiger Verbindung. Er ist heute (1955) 84 Jahre alt. Sein Bild hängt in meiner Stube. Vor fünf Jahren war er 14 Tage bei mir «z’Visite». Einen tapferen Sohn hat er im Zweiten Weltkrieg im Pazifik verloren. Ein anderer Sohn ist amerikanischer Oberst und tat zwei Jahre Dienst mit der USA-Armee in Deutschland. Meyer ist seit vielen Jahren als Beamter im graphischen Gewerkschaftswesen tätig und als Delegierter an vielen Kongressen. Soeben schrieb er mir mit Datum vom 3. Juli 1955, er hoffe auf ein Wiedersehen im nächsten Jahr. Cheerio! Geschäfte gut! Löhne hoch!
Die zwei Jahre habe ich fleissig zu meiner Ausbildung benützt. Wenn ich heute daran zurückdenke, hätte ich mich nicht so sehr auf meinen Beruf versteifen sollen, sondern auf weitergehende Ziele. Da ich Nachtarbeit hatte, war es mir möglich, drei Monate lang eine Geschäftsschule zu besuchen. In der Druckerei hatte ich Nachtschicht bis morgens um zwei Uhr, ging um 8 Uhr morgens in die Schule, in eine englische natürlich. In drei Monaten habe ich mir unter anderem eine recht gute Handschrift aneignen können, was mir in den 9 Jahren in der Schweiz lange nicht so gut gelang. Amerikanische glänzende Methode! Auch photographische und illustrative Kenntnisse machte ich mir zu eigen, letztere mit Hilfe eines Fern-Schulkurses im Zeichnen und Skizzieren. Der «Erfolg» dieser Arbeitsweise hatte Kurzsichtigkeit zur Folge. Die erste Brille musste her. Beim Abschied aus der Druckerei der «New Jersey Freien Zeitung» in Newark versprach man mir, meine Stelle für mich noch 6 Monate offen zu halten. Ich konnte mich damals noch nicht dazu entschliessen, von meiner Heimat und meinen Angehörigen, Mutter und Geschwister sowie zahlreiche weitere Verwandte, für dauernd Abschied zu nehmen. Ich wollte noch einmal zurück, um zu sehen, ob ich zu Hause mir eine Existenz verschaffen könnte, nach 5jähriger Gesamtabwesenheit.

Ein Orkan auf dem Atlantik

Auf der Heimreise von New York mit dem grossen 32’000-Tonnen Dampfer «Kaiser Wilhelm der Grosse» verlebten wir mitten im Monat August, wo sonst das Meer dank schönstem Wetter am ruhigsten ist, einen gewaltigen Sturm, einen amerikanischen Taifun. Damals gab es auf den Ozean-Dampfern das berüchtigte sogenannte Zwischendeck, bestimmt in erster Linie für die Auswanderer, die mit äusserst knappen Mitteln zu rechnen hatten und öfters gratis befördert werden mussten. Am dritten Tag unserer Fahrt ab New York begann sich am Horizont eine graue Wand aufzubauen. Vorsorglicherweise hatte ich bei der Ankunft an Bord des stolzen Schiffes Verbindung mit einem Angestellten des Schiffes aufgenommen, um eine Matrosenkabine zu bekommen. Gegen eine bescheidene Extravergütung wurde mir und drei Kameraden auf dem vorderen Teil des Schiffes eine vierplätzige Matrosenkabine überlassen. Bei schönem Wetter hielten sich die Zwischendeck-Passagiere auf dem Vorderteil des Schiffes auf. Dort konnten Delphine beobachtet werden, die in Gruppen von drei oder vier aus dem Meer auftauchten und wieder ins Wasser zurückplumpsten. Vor dem Spitz des Schiffes gab es auch zuweilen Schwärme von fliegenden Fischen zu sehen. Auf dem vordersten Teil befanden sich Ankereinrichtungen, Wellenbrecherwände von zirka 80 cm Höhe, Luftfänger, welche für frische Luft in den untern Räumen sorgten und allerlei anderes mehr. Dazwischen verstauten sich Zwischendeckpassagiere und erfreuten sich an den Ereignissen an Bord. Nach diesem grossem Schiffsteil, dem Bug, folgte eine Etage tiefer ein grosser offener Raum quer über den Vorderteil. Hier vertrieben sich die Passagiere in allen möglichen Sprachen die Zeit. Zu meiner Überraschung zog ein ganz einfacher Arbeiter neben mir eine prächtige goldige Uhr aus der Tasche. Dies zum Beweis, dass Arbeiter wie ich auch, die billigste Beförderungsart wählten um ihre Ersparnisse zu schonen.
Nun begann das Schiff einen stärkeren Wellengang zu spüren. Die graue Wand am Horizont stieg höher und höher. Der Wind nahm zu. Matrosen erschienen und beorderten die Passagiere in ihre Aufenthalts- und Schlafräume. Ventilations- und Luftfänger wurden wegmontiert. Mehrere Passagiere und ich auch legten uns hinter die eisernen Wellenbrecherwände und genossen das sich bietende Schauspiel. Die Wellen wurden immer höher, der Sturm begann zu toben. Das Schiff fuhr diagonal durch die Wellen, wobei der Vorderteil sich immer tiefer in die Wellen einbohrte. Dabei begannen bei jedem Eintauchen in den Wellenberg stets stärkere Spritzer bis hoch an die Aufbauten des Dampfers aufzujagen. Anfänglich kamen oben Erstklass-Passagiere dem Geländer entlang, um das Schauspiel zu geniessen. Dann kam ein grösserer Spritzer und verjagte die aufschreienden Damen, was uns hinter den Wellenbrechern viel Spass machte. Nun aber beorderten uns Matrosen, schleunigst unsere Schutzstellen zu räumen, ansonst wir wie Ratten ertränkt werden würden. Es war höchste Zeit zu fliehen. Bald tauchte der Vorderteil des Schiffes ganz in die Wellenberge hinein. Der Dampfer, der öfters ganz auf einer Seite einer Welle Platz fand, tanzte richtig nach allen vier Richtungen. Nun schlugen die Wellen in Wasserbergen über den Vorderteil herein und in den Zwischenraum, worauf das Wasser seitlich ablaufen konnte. Die ungeheuren Wasserkräfte waren am Werk, konnten aber dem starken Schiff nicht viel anhaben. Das Krachen der riesigen Wellen in dem vorderen Zwischenraum war beängstigend.
Unterdessen hatten wir uns in der Viererkabine schon seekrank niedergelegt. Das anhaltende Versinken am Bug, gut 8 m tief, und wieder Aufsteigen, einmal linksschräg, dann rechtsschräg, zwang die Eingeweide zur Rebellion. Da gabs kein Mittel dagegen. Der Magen musste ausgeräumt werden, und als nichts mehr drin war, wollte der Magen selbst Abschied nehmen. So schien es mir und meinen Kabinengenossen. – Draussen im Korridor ging plötzlich ein anderes Donnergepolter los. Zuvorderst im Korridor waren viele leere Kessel, Kisten usw. verstaut gewesen, wahrscheinlich schon mehrere Monate, ohne sich zu rühren. Nun tanzte das Zeug im Korridor hin und her, längere Zeit. Zwei volle Stunden dauerte der grausige Sturm, hatte in den Sälen allerhand Unheil angerichtet, zwei Matrosen derart an eine Wand geschleudert, dass sie Arme und Beine brachen. Dann war die Gewalt des Orkans gebrochen. Die Fahrt wurde ruhiger. Mit dem Sturm ging auch die Seekrankheit vorbei.
Dann wagte ich einen Spaziergang in das Quartier des Zwischendecks tiefer unten. Die Angestellten waren schon dabei, den grossen Raum, der über die ganze Breite des Schiffes ging, mit Wasserströmen zu reinigen unter allen Betten hindurch. Die Betten und Bettreihen, aus einfachen Metallgestellen bestehend, immer zwei Betten übereinander, waren nachts einfach aneinander geschoben, so dass viele Passagiere über zwei andere Betten hinwegkriechen mussten, um ihre Bettstelle zu erreichen. Nun stelle man sich den Zustand während des Sturmes vor, wo alle Bullaugenfenster hermetisch geschlossen waren und alle mit den Magenausbrüchen in ihre Behälter zu kämpfen hatten, in einer Luft zum Abschneiden. Es war ein unvergesslicher Erlebnis! Die Zwischendecks wurden Jahre später ganz umgebaut in die sogenannte Touristenklasse mit besseren Zuständen.
Der Rest der Fahrt bis Cherbourg verlief wieder in bester Weise. Fast alle hatten sich erholt.

* * *

Aus Amerika habe ich 5000 gute Schweizerfranken als Ersparnisse meiner Arbeit heimgebracht, bestimmt, mir zu helfen bei der Gründung einer Existenz. Da fand ich in Münsingen eine kleine Notiz betreffend einer Stelle für einen Buchdrucker zur Gründung einer Zeitung. Ich fuhr nach Bern zur Erforschung dieser Sache und dann nach Olten. Am gleichen Tage besuchte in Münsingen ein Polizist meine Wohnung in meiner Abwesenheit. Es handelte sich um eine Dienstsache. Ich war Ende August so rechtzeitig heimgekommen, nach fünfjähriger Gesamtabwesenheit im Ausland, um meine Dienstpflicht in einem Truppenzusammenzug zu erfüllen. Im Frühjahr, zur Zeit der Inspektion der Militäreffekten, war ich in Amerika. Die Kleider und Waffen lagen wohlversorgt in Langnau im Zeughaus; mein Urlaub war in Ordnung. Nun hiess es, ich habe die Inspektion versäumt und auch die Nachinspektion im Herbst. Ergo habe ich drei Tage Strafschiessdienst zu absolvieren! Meine Reklamation beim Kreiskommando in Bern trug mir die Bemerkung ein, da ich reklamiert habe, müsse ich die drei Tage in Bern doch erledigen! So belohnt man einen diensteifrigen Korporal, wenn er glaubt, seine Pflicht voll und ganz erfüllt zu haben!

Neue Ausblicke öffnen sich

Nun begannen im Herbst 1904 die Verhandlungen über die Gründung einer sozialdemokratischen Zeitung. Diese dauerten bis ins neue Jahr 1905 hinein. Die Gründung einer solchen Zeitung in Olten wäre mir unmöglich vorgekommen, wenn nicht die Setzmaschine die Möglichkeit geboten hätte, die Sache zu wagen.
Weder in Olten noch in Solothurn oder Aarau war eine «Linotype» vorhanden. Sie bot mir einen wichtigen Vorsprung. Mit Hilfe der Maschine konnte ich mit wenig Personal eine Zeitung mit grossen Formates herausbringen und den ganzen Text des Blattes und der Unterhaltungsbeilage selber setzen und dabei wesentliche Redaktionsarbeit leisten. Eine «Linotype» musste also her, wenn die Sache gelingen sollte.
Zu meinen 5000 Franken brauchte ich noch mindestens einen Kredit von 23’000 Franken zur Anschaffung einer Setzmaschine und einer Schnellpresse sowie des Setzerei-Inventars. Wo die Bürgen für einen solchen Kredit hernehmen?
In Olten glaubte man noch gar nicht daran, dass es mir gelingen werde, das Projekt zu realisieren. An den Verhandlungen beteiligten sich keine sehr vermöglichen Genossen, die in der Lage gewesen wären, eine solche Bürgschaft zu übernehmen. Es war gewagt, Freunde oder Bekannte für ein solches Projekt anzugehen. Ich hoffte zuversichtlich, die Schuld auch wieder rechtzeitig zurückzahlen zu können. Das hatte sich später bewahrheitet. Ich fand zwei Freunde unserer Familie, die gewillt waren, mir zur Gründung einer Existenz zu helfen. Unser freundlicher Nachbar in Herzogenbuchsee, F. H., sagte mir zu, ebenso mein Onkel Hans Burri, Spenglermeister, in Aarwangen. Sie hatten Vertrauen zu mir. Bei den damaligen Unterhandlungen wusste ich selbst noch nicht, in welcher Form und Haltung sich die Zeitung gestalten lasse.

*

Es war ein Risiko und kein kleines. Das kann man jetzt noch beurteilen. Meine Schwester Flora11, junge Schullehrerin, erklärte sich bereit, mir zu helfen durch Übernahme der Büroarbeiten, Korrekturlesen usw. Mein Mutter übernahm die Besorgung der Haushaltung in der einfachen Wohnung im «Bären». Sie half tüchtig mit in der Druckerei Tag für Tag. Lohn war keiner zu erwarten bis die Gründung sich zu einem Erfolg durchgekämpft habe. Mein Bruder Ernst Trösch12 in Bern versprach mir seine Mithilfe. Sie waren die Hauptstützen innen und aussen und verdienen unsern herzlichen Dank und Anerkennung.
Die Oltner Zeitungen waren damals kleiner in Format und Umfang. Die «Neue Freie Zeitung» hatte ich als zweimal wöchentlich erscheinende Zeitung gedacht mit grossem Format und fünfspaltigem Text. Dazu ein selbst herauszugebendes Unterhaltungsblatt «Für die Feierstunde».
Es musste ein Blatt werden, das der Arbeiterfamilie das bietet, was sie von ihrem Blatt verlangt: Aufklärung und Kampf in sozialen Fragen, Nachrichten aus Heimat und Fremde, Artikel und Korrespondenzen über kantonale und schweizerische Fragen, Belehrung und Unterhaltung. Die Durchschnittsfamilie ist nicht für zu viele Kampfartikel, sondern für das, was die Familie interessiert, inbegriffen Wahrung des Standpunktes und der Interessen der Arbeiterschaft im Existenzkampf.
Meine Jugend hatte nichts mit dem Kampf der Arbeiterschaft zu tun. In Herzogenbuchsee herrschte eine eigene Politik, in welcher Uli Dürrenmatt mit seiner «Buchsi-Zitig» die wichtigste Rolle spielte. Dabei focht er auf konservativer Seite, war aber sehr angriffig gegen Willkür und Unrecht auf eidgenössischem und kantonalem Boden. Er war ein grosser Dichter, der für jede Nummer ein eigenes zügiges Gedicht neben dem Zeitungstitel herausbrachte. Sein Blatt erfuhr eine beträchtliche Verbreitung.
Meine Eltern, die auch unten hatten anfangen müssen, hatten ihren Existenzkampf durchzufechten und keine Zeit für Politik. Ich musste auf meine eigenen Erfahrungen und ganz auf diejenigen meines fünfjährigen Auslandsaufenthaltes abstellen. Als Typographia-Mitglied war ich schon in Organisation und Gewerkschaftskampf eingeführt. In Münsingen, Frankreich und in Amerika hatte ich bei Lohnforderungen mitzuwirken und ich war auch belesen in diesen Gebieten. Aus Amerika brachte ich eine Mappe voll interessanten Materials heim. In Amerika erlebte ich es, wie organisierte Arbeiter einen viermal grösseren Lohn verdienten als Nichtorganisierte. Diese letzteren litten Mangel in vielen Dingen. Gute Löhne sind die Grundlage zum vernünftigen Leben und auch zum guten Geschäftsgang in Stadt und Land.
Die Gewerkschaften haben viel zum Gedeihen von Handel und Wandel beigetragen und damit zur Hebung des Lebensniveaus des arbeitenden Volkes. In der Schweiz waren damals mehr Hungerlöhne als anständige Löhne üblich. Die Aufwärtsbewegung ging sehr langsam.
Dieses Beispiel in Amerika war sehr belehrend darüber, was Organisation und Zusammenhalten in den Gewerkschaften erreichen können. Kein Wunder, dass mir diese Lehre Eindruck machte und bewies, dass Aufklärung not tut, und zwar nicht nur bei der Arbeiterschaft, sondern auch bei andern Berufsgruppen und Bevölkerungskreisen. Es war nicht verwunderlich, dass mich die Oltner Buchdruckerei- und Zeitungsfrage sofort sehr interessierte. In dem schweizerischen Zentralpunkt Olten war gewiss eine Arbeiterzeitung ein Bedürfnis. Diese Meinung wurde aber bei der Arbeiterpresse in Bern und Zürich nicht geteilt. Sie sprachen von Zersplitterung, die aber schon von den Kantonsgrenzen herkam.
Die Arbeiterschaft des Kantons Solothurn begrüsste das Erscheinen einer neuen solothurnischen Arbeiter-Zeitung. Es war ein Ziel ernsthaften Schweisses wert. Nicht die Frage nach einem finanziellen Erfolg war das Ziel, sondern die Schaffung eines Werkes im Interesse der Schwachen gegenüber den meist rücksichtslosen Starken. Solche Ziele sind aber nur durch gute Organisation sowie durch sorgfältige Ausarbeitung der Pläne zur Besserung und zum Fortschritt erreichbar.
Man weiss es heute, wie rückständig 1905 die sozialen Bedingungen des Lebens in der Schweiz waren. Und wie viele falsche Auffassungen und Meinungen bestanden. Die Gründung einer Arbeiterzeitung war eine notwendige Sache, trotzdem wurde diese schwer bekämpft. Erst langsam erwies sich: Hat der Arbeiter Geld, so hat’s die ganze Welt! Der Arbeiter bleibt aber immer an einem gewissen knappen Existenzminimum hängen. Verteuerungen nehmen ihm einen guten Teil der Verbesserungen weg. Wohin käme man heute mit den Hungerlöhnen vom Anfang dieses Jahrhunderts? Dank ihrer Organisation waren die Typographen unter den am besten bezahlten Arbeitern.
An der Besserung des Lebensstandards der Arbeiter hatten auch andere Berufsgruppen ein Interesse und darum auch Sympathie für den Aufstiegskampf der Gewerkschafts- und Eisenbahnerverbände, und auch der Arbeiter-Zeitung.
Die Grösse der Aufgabe lockte mich, allen Gefahren zum Trotz sie in Angriff zu nehmen. Viele Hoffnungen galt es zu erfüllen, das Recht zu stützen, die Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Das Leben der Menschen ist erst lebenswert, wenn es vernünftig gestaltet werden kann. Der Arbeiter hat nicht nur die Pflicht, zu arbeiten, sondern auch das Recht zu einer guten Lebensgestaltung. Er muss mehr Zeit haben, um sich seiner Familie zu widmen und deren Leben glücklicher zu machen. Dazu braucht es Verbesserungen der Löhne, Verkürzung der Arbeitszeit von 10–11 Stunden in Fabrik und Werkstatt. Ferien waren damals ein unbekannter Luxus!
Um das Unternehmen zu einem Erfolg führen zu können, war vor allem ein reichhaltiges Blatt notwendig, das Aussicht bot, Leser und Abonnenten zu gewinnen. Das musste mit der Setzmaschine zu erreichen sein. Warum nicht eine solche Maschine in den Dienst der Arbeitersache zu stellen, um dem menschlichen Fortschritt zu dienen? Nur mit der Setzmaschine war die Möglichkeit vorhanden, dem Projekt die Grundlage zum Erfolg zu schaffen, in Verbindung mit rastloser Selbstarbeit an der Maschine, um grosse Kosten einsparen zu können.
Ein reichhaltiges Blatt musste Freunde werben, musste der Arbeiterschaft das bieten, was sie sich wünscht als Hauszeitung einer Familie. Bei den Oltner Arbeitern zeigte sich von Anfang an viel Arbeitswille zur Mithülfe sowie lebhafter Kampfgeist. Olten und Umgebung hatte schon Tausende von Arbeitern und Arbeiterinnen, die von einem Arbeiterblatt Unterstützung in ihrem Kampfe um die Existenz erhofften. Es war aber auch mit starker Gegnerschaft zu rechnen.
Aus dem Erzählten aus dieser Gründungsgeschichte ist zu ersehen, an wie vielen Klippen das Schiff heil vorbeikommen musste, um der Verwirklichung näher zu kommen.
Jeder Fachmann hätte mir abgeraten, ein solches Wagnis in Angriff zu nehmen!
Es geht vorwärts!

Nach vielen Besprechungen mit den Oltner Initianten wurde die Situation klar herausgearbeitet. Ich erklärte mich endlich bereit, auf mein Risiko die Druckerei und die Zeitung zu gründen. Dem kommenden Blatt schlug ich als Titel «Neue Freie Zeitung» vor, Zentralschweizerisches Volksblatt, Organ der Sozialdemokratischen Partei von Olten und Umgebung und der Arbeiterunion Aarau. Redaktion und Verlag von W. Trösch. Als Druckerei-Lokal war das frühere Sattlereilokal der Familie Studer im «Bären» gefunden worden. Beim Montieren der einfachen Schnellpresse, der Setzmaschine und so weiter hatten es die umstehenden Buben bald heraus: Das gibt jetzt die «Oltner Tagwacht»!
Am 12. April 1905 erschien Nr. 1 der «Neuen Freien Zeitung» Das Blatt wurde sofort freudig begrüsst und sicherte sich von Anfang an viele Freunde. Präsident des Parteikomitees, Genosse Fürsprech Kessler, schrieb den ersten Aufruf und Leitartikel. Die Eisenbahner der Stadt Olten, die Arbeitervereine, die Grütlianer, die Gewerkschaften in Stadt und Land wurden Freunde des Blattes und sahen einer Belebung der ganzen Bewegung im Kanton und in den Nachbargebieten entgegen. Überall zeigten sich tätige Freunde im Sammeln von Abonnenten. Zahlreiche Mitarbeiter in Stadt und Land fanden sich. Der tätigste von allen war gewiss der Eisenbahner August Kamber, samt seinen Familienangehörigen, worunter der nachmalige Oltner Rektor Dr. Kamber.
In der Druckerei war sehr fleissige Arbeit notwendig, um möglichst rasch aus den Kosten der Neugründung hinaus zu kommen. Die Maschinenmeisterfunktion musste ich selbst übernehmen, Arbeiten, die ich gewohnt war von meiner Lehre her. Meine Schwester, damals junge Lehrerin, besorgte das Bureau, Korrekturenlesen. Meine Mutter, ihr Lebtag an fleissiges Arbeiten mit langen Arbeitsstunden gewöhnt, arbeitete unverdrossen angreifend und mithelfend in der Druckerei. Daneben besorgte sie noch unsere Haushaltung in einem bescheidenen Logis im «Bären». Sie verstand es in überraschender Weise, sich in die soziale Bewegung einzupassen.
Aus einer andern Druckerei kam ein Lehrling zu mir und wünschte, seine Lehrzeit bei mir zu vollenden, da er zu wenig Gelegenheit habe, etwas Rechtes zu lernen. Dieser Jüngling hiess Otto Nickler, der sich später zu einem hervorragenden Linotypesetzer entwickelte. Die Setzmaschine zog ihn an, und offenbar auch die neuen Ideen. Nickler besass auch bemerkenswerte dichterische Qualitäten. Zu meinem ersten und langjährigen Hilfsarbeiter entwickelte sich Fritz Leu, der heute ein Alter von beinahe 90 Jahren erreicht hat, stets treu und zuverlässig, tatkräftig unterstützt von seiner Frau, die beide eine ehrenhafte Erwähnung reichlich verdient haben.
Bald verschwand in den Leserkreisen die Furcht, das Blatt könne sich nicht halten. Es ging aufwärts.
Als Mitarbeiter in der «Neuen Freien» betätigte sich auch mein jüngerer Bruder Ernst, damals Gymnasiallehrer in Bern. Ernst Nobs, nachmaliger Bundesrat und Seminarfreund meines Bruders, hat in einem Artikel «Oltner Erinnerungen» von meinem Bruder und unserer Familie in freundlicher Weise berichtet und auch von meinem Schwager Ernst Reinhard, was mich ganz besonders gefreut hat. Die «Neue Freie» hat er in seiner Tätigkeit als Lehrer nicht vergessen und später als Lokalredaktor in Luzern im Hauptblatt mitgewirkt.
Bei der politischen Gegnerschaft im freisinnigen und konservativen Lager wurde das neue Blatt begreiflicherweise nicht gerne gesehen. Über die Kräfte des neuen Blattes wurden Auskünfte eingezogen, so dass der Führer der freisinnigen Partei, Herr Dr. A. Christen, sich äusserte: Trösch sei soweit recht, aber in zwei Jahren sei er kaputt! (finanziell natürlich). Wenn er auch feststellte, dass kein Reichtum vorhanden sei, so unterschätzte er offenbar die Arbeitsleistung der Setzmaschine und den Unterstützungswillen der Arbeiterschaft und der Mitarbeiter. Mit der Tätigkeit an der Linotype wurde es möglich, mit wenig Personal eine grosse Zeitung herzustellen.
Eine kleine fortschrittliche Tat ereignete sich in Olten gleich während der Einrichtung der Druckerei. Die Sektion Olten des Typographenbundes war damals bestrebt, einen tariflichen Minimallohn zur Anerkennung zu bringen. In Olten weigerten sich die Druckereien, diese Forderung anzuerkennen. Ich erklärte aber sofort, diese Forderung zu unterstützen. Diese Zustimmung bewirkte, dass die andern Druckereien ebenfalls eine dahingehende Erklärung abgaben. Sie sagten sich wohl, wenn der Anfänger das könne, so müssten sie von der Ablehung abstrahieren.
Genosse Josef Theiler, damals Präsident des Schweizerischen Zugspersonalvereins, hat mir gleich im ersten Jahr und auch in den folgenden Jahren den Jahresbericht zum Druck übergeben. Damals war auch Paul Brand, früherer Pfarrer, Sekretär des Schweizerischen Zugspersonalvereins. Eine Strasse im Fustlig ist nach seinem Namen benannt.
Die Propaganda für die Zeitung durfte nicht vernachlässigt werden. Bei einem Wettbewerb im Abonnentensammeln setzte ich als ersten Preis mein gutes Velo ein. Preisfrage: Wie viele Weizenkörner befinden sich in der ausgestellten Flasche? Gute Arbeit wurde von den Wettbewerbern geleistet. Die Auflage des Blattes wuchs.
Schon im ersten Jahrgang entwickelte sich Dr. A. Heim, Augenarzt, als famoser und gern gelesener Artikelschreiber, der oft von der Gegnerpresse zur Zielscheibe ihrer Angriffe gemacht wurde, was zu seiner Popularität bei den Lesern der «Neuen Freien Zeitung» nicht wenig beitrug.
Mein Bruder Ernst Trösch lieferte zu einer Osternummer einen längeren, fortschrittlichen Leitartikel, der von vielen gelobt und begrüsst wurde. In den «Oltner Nachrichten», dem katholischen Organ, stiess er aber auf starke Ablehnung. Dieser Artikel gab noch lange Anlass zu Pro- und Kontra-Einsendungen.

Die «Neue Freie Zeitung» entwickelt sich

Schon am Schluss des ersten Jahrganges, im Dezember 1905, konnte zur dreimal wöchentlichen Ausgabe geschritten werden, gestützt auf lebhafte Wünsche aus den Kreisen der Leserschaft und auf den Erfolg im ersten Jahr. Das brachte eine weitere Förderung, hatte aber zur Folge, dass das Unterhaltungsblatt «Für die Feierstunde» fallen gelassen werden musste. Im ersten Halbjahr dieser dreimaligen Ausgabe gab es an der Maschine viel Nachtarbeit, die meistens an mir hängen blieben aus Ersparnisgründen.
Mit dem dritten Jahrgang machte sich eine neue Kraft bei den Mitarbeitern in hervorragender Weise bemerkbar. Es war der E.-R.-Korrespondent, nachmaliger schweizerischer Parteipräsident und bernischer Regierungsrat Ernst Reinhard, damals Lehrer in Herzogenbuchsee. Er wurde später mein Schwager. Viel zu früh, im Alter von erst 58 Jahren, musste er seine grosse Tätigkeit einstellen und dem Tode seinen Tribut zollen. Ähnlich erging es meinem Bruder Ernst Trösch in Bern, der im Alter von 65 Jahren vom Tode dahingerafft wurde.
Viele Freunde, die bei der Gründung und später mitgeholfen haben, mussten seither Abschied nehmen. Herzlichen Dank ihnen allen! Ehre ihrem Andenken!
Eine besondere Ehrenmeldung haben die Lostorfer Genossen verdient für ihre fleissige Unterstützung des Parteiblattes, voraus Hans Brügger, Bitterli und andere. 1908 bei den ersten Kantonsratswahlen hatten die Lostorfer Genossen die Mehrheit im Gemeinderat errungen und Hans Brügger wurde zum Ammann gewählt.

Die tägliche Arbeit kommt in Sicht!

Schon früh nach dem Erscheinen der dreimaligen Ausgabe wurde der Wunsch in Parteikreisen laut, das Blatt täglich herauszugeben. Das war aber vorerst noch eine unerreichbare Fata Morgana.
Mit dem dritten Jahr zeigte sich im «Bären» die Notwendigkeit, grössere Räume zu beschaffen. Ohne die Lösung dieser Vorfrage war eine tägliche Ausgabe undenkbar. Da musste schon eine gute Portion Glück mir zur Hülfe kommen. Etwas später fand sich dieses Glück in der eigenen Familie. Es gelang, den noch freien Bauplatz an der Froburgstrasse zu erwerben. Das war eine Erlösung aus grosser Not.
Mit dem Neubau konnte so rasch vorwärts geschritten werden, dass der Neubau des Hinterhauses für die Druckerei im Herbst 1909 bezogen werden konnte. Im Jahre darauf, 1910, wurde das Hauptgebäude, Froburgstrasse 9, bezugsbereit. Damit gab’s Platz genug für die damalige Unternehmung.

Das Zentralschweizerische Hauptblatt wird in Angriff genommen

Mit dem Näherrücken der täglichen Ausgabe kamen zahlreiche Fragen und Möglichkeiten zur Behandlung. Das Jahr 1910 barg viele Vorarbeiten in sich. Die Aargauer und Luzerner Genossen litten am Aufkommen ihrer Zeitungen. Beide Parteien verfügten nur über kleine, zweimal wöchentlich erscheinende Zeitungen. Mit dem Projekt der täglichen Ausgabe der «Neuen Freien Zeitung» begrüsste ich die Luzerner und Aargauer mit dem Vorschlag, ein gemeinsames Organ zu gründen in der Form eines vierseitigen Hauptblattes für alle drei Kantone. Dank der Vergrösserung der Auflage konnte ein relativ sehr billiger Preis für die Luzerner und Aargauer Blätter ausgerechnet werden. Diese beiden Organe erhielten etwas später lokale Beilagen zum Hauptblatt, also sechs Seiten grossen Formates. Dadurch konnten die Wünsche aller drei Pressunionen erfüllt und den Abonnenten ein zügiges Blatt geliefert werden, Redaktion des Hauptblattes im Preise inbegriffen.
Dieses Projekt wurde in glücklicher Weise gefördert von Genosse Albisser, Präsident von schweizerischen Eisenbahner-Organisationen, in dem er den Druck des «Flügelrades» zusicherte, um den Druck des zentralschweizerischen Hauptblattes billiger gestalten zu können. Der ganzen Sache widmeten auch die Luzerner Genossen Dr. Steiner, der Administrator und spätere Nationalrat Weibel, sowie Buchdrucker Müller ihre Mithülfe, vom Aargau die Genossen Otto Suter, Fuchs und andere.
Der Druck des «Flügelrades» war eine wesentliche Hülfe für meinen Betrieb in Olten. Zur Durchführung des ganzen Planes musste ich grosse Anschaffungen machen: eine Zeitungsrotationsmaschine, eine weitere Linotype, eine Schnellpresse usw. Im Druckereigebäude an der Froburgstrasse musste nach kaum drei Jahren der Fertigstellung des Baues ein grosser Maschinenraum ausgebaut werden. Kostenfolge über 50’000 Franken.
Mit der Entwicklung dieser Probleme entstand die Notwendigkeit der Anstellung eines Redaktors für die tägliche Ausgabe des gemeinsamen Hauptblattes. Damit wurde auch für die Solothurner die Frage der Gründung einer eigenen Pressunion aktuell mit der Übernahme der Herausgabe der «Neuen Freien Zeitung» in Selbstverlag.
Im Sommer 1911 kam die Wahl des Redaktors Jacques Schmid an die Reihe. Letzterer wirkte als jüngerer Redaktor am Zürcher «Volksrecht». Jacques Schmid und Frau hatten Mühe, sich mit der Vertauschung Zürichs mit Olten als neues Wirkungsfeld zu befreunden und es bedurfte des persönlichen Besuches meinerseits, um diesen Beschluss zur Reife zu bringen. So kam die tägliche Ausgabe der «Neuen Freien Zeitung» am 1. Juli 1911, des «Freien Aargauers» und des Zentralschweizerischen «Demokrat» Ende 1911 zur Verwirklichung.
Mit dem Zustandekommen der solothurnischen Pressunion, zu deren Führung die Genossen Bösiger und Schindelholz gewählt wurden, ging der Verlag der «Neuen Freien Zeitung» kostenlos in das Eigentum der Solothurner Pressunion über. Sie übernahm die Administration und Verwaltung sowie die Expedition der «Neuen Freien Zeitung». Leider ergab das erste Jahr 1912 ein Defizit von 12’000 Franken, veranlasst durch eine etwas zu gross angelegte Inserate-Acquistion. Schon im zweiten Jahre wurde das Ergebnis besser, dank der guten Voraussetzungen, die nun vorhanden waren.
Unsere Erwartungen bei den Kantonsratswahlen 1912 wurden enttäuscht. Redaktor Jacques Schmid widmete sich seiner Aufgabe mit viel Erfolg und Eifer, hielt viele Vorträge und fand Beifall in den Kreisen der Genossen. Da war es gar nicht verwunderlich, dass die Freisinnigen vor den Wahlen des Kantons Solothurn in Olten einen Aufmarsch von 5000 Mann, Tannzweige am Hute, zur Propaganda organisierten, um gegen die Sozialdemokraten und die Schreibweise der «Neuen Freien Zeitung» zu protestieren.
Die Aargauer und Luzerner Genossen konnten sich mit ihren Blättern, täglich zu sechs Seiten, sehen lassen und auch demgemäss entwickeln. Sie hatten nun ein Organ, das den Lesern viel bot und während des Ersten Weltkrieges mächtige Hilfe brachte. Das gleiche war im Kanton Solothurn der Fall. Die «Neue Freie Zeitung» drang auch im obern Kantonsteil durch. In der Folge ist die «Volkswacht am Jura», herausgegeben von Genosse Guldimann in Grenchen, mit der solothurnischen Pressunion und der «Neuen Freien Zeitung» verschmolzen worden.
Der 1914 ausbrechende Weltkrieg drohte zuerst zu einer Gefahr für die Parteizeitungen zu werden. Die Schwierigkeiten lösten sich aber wieder auf und in der Folge wurde ein Erstarken der sozialdemokratischen Zeitungen daraus.
Am Kriegsende 1918/1919 konnten die drei Pressunionen ein so starkes Aufblühen der Zeitungen feststellen, dass sie zum Bau von eigenen Druckereien überzugehen vermochten. Das war auch im Kanton Solothurn der Fall. Aus dem Privatbetrieb der Druckerei in Olten wurde nun ein separater Genossenschaftsbetrieb, die «Genossenschafts-Druckerei» in Olten. Auch diese kann bei dem 50jährigen Jubiläum der Zeitungsgründung auf das respektable Alter von 36 Jahren zurückblicken. Die «Neue Freie Zeitung» wurde bei diesem Anlass umgetauft in «Das Volk».
Ohne Schwierigkeiten ist es aber auch beim Genossenschaftsbetrieb nicht abgegangen. Trotzdem ging es aufwärts! Im grossen und ganzen darf man mit den Errungenschaften zufrieden sein. Die Arbeiterorganisationen sind zu machtvoller Blüte emporgewachsen, das Lebensniveau der Arbeiterschaft und der ganzen Welt hat sich stark gehoben. Auch heute noch ist grosse Arbeit zu leisten. Immer neue Probleme sind zu lösen. Dazu muss die Arbeiter- und Genossenschaftspresse immer stärker das ihrige beitragen. Neue Gefahren sind aufgetaucht. Mit viel gutem Willen und planvollem Handeln wird es möglich sein, auch in Zukunft zu guten Resultaten zu gelangen.

Schlusswort

Unterdessen ist der Gründer der «Neuen Freien Zeitung» dem 80. Lebensjahr nahegerückt. 1955. Mit viel Freude kann er auf die Gründung und das Wachsen der solothurnischen Arbeiterpresse zurückblicken, aber auch auf den Erfolg seiner Tätigkeit, die «Neue Freie Zeitung» gegründet und bis zum Tagblatt entwickelt zu haben. Dazu war er imstande, das wertvolle Verlagsrecht der Zeitung samt Abonnentenbestand und Inseratenwesen ohne jegliche Kosten der solothurnischen Pressunion zu überlassen, auf guter Grundlage zum Erfolg. Der Gründer jedoch musste nun selber sehen, wie er mit seiner Druckerei weiterkam, nach 15jährigen Kampf für die «Neue Freie Zeitung».

Anmerkungen

 1 Friedrich Trösch, * 2.2.1851 Thunstetten, † 25.1.1896 Herzogenbuchsee [Quelle: Burgerrodel Thunstetten III, 375].
 2 1888 erwarb Burkhard Fischer (1857–1938) von seinem Patron Druckerei und Verlag der «Emmentaler Nachrichten» in Münsingen [aus: Ernst Burkhard, Dorf und Herrschaft Münsingen in alter Zeit, Münsingen 1962, 82].
 3 Frühling 1893.
 4 Jakob Burri.
 5 Maria Anna Trösch, geb. Burri, * 17.10.1847 Bützberg, † 13.8.1929 Bern [Quelle: Burgerrodel Thunstetten III, 375].
 6 Herbst 1899.
 7 1899–1901/1902.
 8 1902.
 9 1902.
10 Bis 1904.
11 Flora Trösch, * 13.3.1887 Herzogenbuchsee, ∞ 1910 Ernst Reinhard [Quelle: Burgerrodel Thunstetten III, 375].
12 Ernst Trösch, * 18.5.1879 Herzogenbuchsee, † 1.10.1943 Bern [Quelle: Burgerrodel Thunstetten III, 375].

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